„[...] eine Politik der Demobilisierung und Depolitisierung, die darauf abzielt, die Beherrschten in einem bloß praktischen Gruppenzustand zu halten, so dass sie lediglich durch das Zusammenspiel von Anordnungen miteinander in Verbindung treten und dazu verurteilt sind, wie ein Aggreggat zu funktionieren und auf die immer gleichen isolierten und additiven Praktiken (wie die Entscheidungen des Marktes oder des Wählens) beschränkt zu bleiben.“  (Bourdieu 1983: 183)

Theoretische Grundlagen: Der Wohlfahrtsstaat als Machtfeld

Einführung

Die enorme militärische, ökonomische sowie kulturelle Macht und Gewalt, die in sog. ‚Wohlfahrtsstaaten‘ konzentriert ist, gilt allgemein nur als Mittel, um die größtmögliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sowie Wohlfahrt für alle durchzusetzen – ungeachtet aller Kriege, Not und sozialer Ungleichheit. Im Jahr 2009 wurden geschätzte ca. 1.531 Mrd. US $ für militärische Zwecke aufgewendet (geg. dem Jahr 2000 eine Zunahme um ca. 49%); fast die Hälfte entfiel auf die USA und unter den ‚Top-15‘, die über 80 % der Militärausgaben bestreiten, befinden sich v.a. die‚Wohlfahrtsstaaten‘ Frankreich, Großbritannien und Deutschland (http://www.sipri.org). (Abbildung).

Rangliste der Militärausgaben  (2009)

Source: SIPRI Yearbook 2010, www.sipri.org
 

Diese Konzentration an Gewaltpotentialen geht nicht zufällig mit jener des ökonomischen Kapitals einher, ebenso wie soziale Ungleichheit konfliktfördernd ist: Dabei hatten im Jahr 2000 die reichsten 10% der Haushalte der Welt mehr als die Hälfte aller verfügbaren Einkommen der Welt, 85% der reichsten 10% der Erde stammten aus OECD-Ländern; dagegen erzielten 40% der Menschen der Welt zusammen nur ca. 5 % aller Einkommen – darunter die ca. 2,5 Mrd. Armen mit Einkommen unter 2 $ (KKP) pro Tag) (UNDP 2005; Dikhanov 2005; Milanovic 2006). Deshalb wird in der folgenden begrifflichen und theoretischen Fundierung an diese Zwiespältigkeit des Wohlfahrtsstaats erinnert.

In den Wohlfahrtsstaaten werden in den letzten Jahren immer neue ‚Krisen‘ konstatiert (der Finanzen, Wirtschaft, Arbeit, Energie, Demographie, Familie, Umwelt usw.), die als Grundlage einer reaktionären ‚Krisen- und Reformpolitik’ dienen, als Rückkehr der ‚Grammatik der Härte’ (Fach 2000), mit dem Abbau sozialer Teilhabe und einer wachsenden sozialen Ungleichheit. Dieses wird technokratisch als ‚unvermeidbar’, ‚wohlfahrts- oder ‚zukunftssichernd‘ bzw. ‚zukunftsorientiert’ usw. gewendet und wirkt zusammen mit den auch hierzulande anhaltenden sozialen Notlagen entpolitisierend. Es droht ein autoritärer Etatismus im Ausnahmezustand (Poulantzas 1978; Agamben 2004) und ein Verschwinden von Politik‘ in der ‚Postdemokratie‘ (Crouch 2008; Fach 2008). Angesichts der offen oder verdeckt gewaltträchtigen Krisenpolitik der mächtigen Wohlfahrtsstaaten, herrscht flankiert von Armut, Arbeitslosigkeit und extremer sozialer Disparität, vermehrt auch in den kapitalistischen Zentren eine lähmende Sorge, Angst, Resignation und Apathie, was als ‚Politikverdrossenheit’ nur unzureichend, eher paternalistisch verständnislos beschrieben wird. Die wenigen virulenten Proteste, Kämpfe und Bewegungen bleiben bisher primär national und richten sich in den Wohlfahrtsstaaten auf die eher kleinteilige Verteidigung sozialer Teilhaberechte gegen die allgegenwärtigen angeblichen ‚Reformnotwendigkeiten’ und ‚Sachzwänge’, infolge Globalisierung, Alterung usw., der weiter angelegte Blick und eine Verbindung zur ‚Peripherie’ fehlt dagegen.

 
Der Wohlfahrtsstaat und die wohlfahrtsstaatliche Krisen- und Reformpolitik wird zunächst als Machtfeld (nach Bourdieu 2001) rekonstruiert, im zweiten Schritt empirisch und sektoral vertiefend anhand einzelner Felder der Sozialpolitik (auch unter Einbezug von Nonprofit-Organisationen), und zwar im Rahmen einer globalen Arbeitsteilung oder ‚Weltgesellschaft’. Der ‚Wohlfahrtsstaat‘ bildet ein brisantes Feld sozialer und politischer Konflikte, auf dem konkurrierende Akteure um die Macht im Staat kämpfen, um ihre Sichtweisen und Regeln der sozialen Ordnung als allgemein verbindliche durchzusetzen. In kapitalistischen Gesellschaften besteht der Hauptkonflikt zwischen Kapital und Arbeit, der sich im bis heute dominanten Rechts-Links-Gegensatz politischer Parteien ausdrückt. Dabei zeigen sich soziale Positionen ziemlich eng mit politischen Sichtweisen, Einstellungen oder Werthaltungen gekoppelt – diese sind also weder völlig zufällig oder individuell frei wählbar noch völlig determiniert. Mit Bourdieu und Vester et al. lässt sich das soziale und politische Feld somit zweidimensional konstruieren (Abbildung, Erläuterungen…).
Abbildung: Modell des sozialen und politischen Feldes
Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an: Vester et al. 2001; Geiling/Vester 2007.http://www.sozial-politik-seminar.de/textefrei/abb_soziales_politisches_feld.pdf

Zuerst folgen begriffliche Überlegungen zum Wohlfahrtsstaat, welche ihren Fokus auf die meist ausgeblendeten Aspekte der Gewalt und des Staates als Machtfeld richten. Im Anschluss daran wird die Logik sozialer und politischer Felder im Sinne Pierre Bourdieus und darauf aufbauend die Strukturen der sozialen und politischen Milieus in Deutschland als Hintergrund des wohlfahrtsstaatlichen Machtfeldes erläutert. Damit lassen sich auch Esping-Andersens ‚Wohlfahrtsregime’  hinsichtlich ihrer sozialen Hintergründe, Strukturen und Veränderungen weiter fundieren und vertiefen. Und auch die abschließend umrissene Logik der aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Krisen- und Reformpolitik mit der Tendenz zur Entpolitisierung und zum ‚Ausnahmezustand’ in einer ‚Postdemokratie’ kann vor diesem Hintergrund der Strukturen sozialer und politischer Felder und ihren Veränderungen besser verstanden werden. Weiter lesen…