Gesundheitspolitik

Dienste zur Förderung, Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit können privat-solidarisch (z.B. durch gemeinnützige Stiftungen oder genossenschaftliche Versicherungen), marktwirtschaftlich profitorientiert (durch private Versicherungen und Unternehmen) oder staatlich organisiert werden. Da Menschen im Fall von Krankheit unmittelbar und existentiell darauf angewiesen sind, dass rasch genügend gute Gesundheitsdienste bereit stehen und zugänglich sind, sollten diese durch den Staat garantiert werden, sofern private solidarische oder profitorientierte Lösungen ausfallen oder nicht ausreichen. Gleiches gilt für die soziale Absicherung gegen Einkommensausfälle während einer Krankheit.

Denn Gesundheitsmärkte funktionieren meist nur unvollständig, wobei es neben dem Problem sozialer Ungleichheit mit dem tendenziellen Ausschluss nicht Zahlungskräftiger oder ‚schlechter Risiken‘ (wie Arme, Alte, Kranke) einige weitere gibt (Bäcker et al. 2010: 117 ff.): So bestimmen Anbieter wie Ärzte wesentlich über die Nachfrage angesichts wenig souveräner, meist mangelhaft informierter Patienten. Zur ‚angebotsinduzierten Nachfrage‘ kommt grundsätzlich ein ‚moralisches Risiko‘ (‚Moral Hazard‘) der übermäßigen Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen zu Lasten Dritter, was zwar mittels Selbstbeteiligung reduziert werden kann, jedoch wieder um den Preis des möglichen Ausschlusses Ärmerer. Dabei ist das ‚Produkt‘ Heilung wie der Bedarf oft unklar, die Qualität und Wirksamkeit von Maßnahmen von der Mitwirkung (Compliance) der Patienten abhängig und auch Unbeteiligte können Nutznießer sein, z.B. beim Impfen; zudem sind Wirkungen oft nur auf lange Sicht oder schwer genau zu beurteilen – und der Preis wird angesichts existentieller Bedrohungen für die Nachfragenden eher zur Nebensache.

So zeigt die Erfahrung, dass ohne adäquate staatliche Regulierung, Finanzierung und Organisation von Gesundheitsdiensten vor allem ärmere, ältere oder alleinstehende Menschen oft ohne adäquate gesundheitliche Dienste und soziale Sicherung zurückbleiben. Deshalb klagen in den liberal und säkular-konservativ geprägten, USA, wo nur eine minimale staatliche Gesundheitssicherung für Arme existiert, etwa ein Drittel der Menschen über den mangelhaften Zugang zu Gesundheitsdiensten, 40% sind es bei den unteren Einkommensgruppen (OECD 2011: 130 f.). Private und profitorientierte, marktwirtschaftlich organisierte Gesundheitswesen wie in den USA bringen zwar extreme Spitzenleistungen, jedoch um den Preis der Unterversorgung breiter Massen und enorm hoher Ausgaben: So wurden im Jahr 2013 in den USA über 16,4% des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit ausgegeben (ein einsamer Spitzenwert), in Deutschland waren es 11 %, bei einer im Großen und Ganzen besseren Versorgung des Volkes (OECD).



Aber auch im christdemokratisch-konservativ geprägten deutschen Wohlfahrtsstaat sind die Gesundheitsausgaben relativ hoch. Hier wird das Gesundheitswesen primär durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in korporatistischer Selbstverwaltung der Sozialpartner‘ (Vertreter der Versicherten und Arbeitgeber, Ärzten usw.) bestimmt. Allerdings setzen die Politik und der Staat wesentliche Rahmenbedingungen und die ‚Eingriffe‘ in die Selbstverwaltung haben zugenommen. In der deutschen GKV sind zwar ca. 90 % der Bevölkerung relativ gut abgesichert, bei einer hohen und einigermaßen gleichen Qualität der Versorgung, was sich auch der großen Zufriedenheit der Bürger mit der Gesundheitsversorgung widerspiegelt (Laurer et al. 2011). Allerdings zeigen Umfragen auch eher kritische Werte (Wendt 2010), insbesondere, wenn sich die Fragen auf das Gesundheitssystem, mithin die Gesundheitspolitik, beziehen (Schmid 2010: 297). Angesichts hoher Erwartungen in der Bevölkerung, vor allem an die Solidarität und Gleichheit des Gesundheitswesens (vor allem in Ostdeutschland; vgl. Marstedt, nach: SVR-Gesundheit 2003: 27 ff.; Wendt 2010), ist es problematisch, dass das deutsche Gesundheitssystem real tendenziell in zwei Klassen (gesetzliche und private Versicherung) geteilt ist, wobei u.a. Selbständige oder Besserverdienende in eine besser leistende Privatversicherung abwandern können.

Damit ist Deutschland weit von der universellen ‚Staatsbürgerversorgung‘ sozialdemokratisch geprägter Wohlfahrtsstaaten wie in Skandinavien entfernt (vgl. Schmid 2010: 286). Dazu kommen diverse, immer neue Gesundheitsreformen mit Maßnahmen der Kostendämpfung, steigenden Selbstbeteiligungen und dem Ausschluss von Leistungen, also einer wachsenden ‚Reprivatisierung‘ von Risiken, bei trotzdem immer weiter steigenden Beiträgen. Zu letzterem trägt vor allem die Dauerkrise auf dem Arbeitsmarkt mit sinkenden Einnahmen der GKV bei, weniger die in Relation zum Bruttoinlandsprodukt moderat wachsenden Ausgaben und auch kaum die viel beschworene Alterung der Bevölkerung. Erneut liegt somit ein Kernproblem des deutschen Sozialversicherungssystems darin, dass die Lasten der Finanzierung einseitig auf dem Faktor Arbeit liegen, insbesondere der prekärer werdenden ‚Normalarbeit‘, während Spitzeneinkommen und Kapitalerträge wie Mieteinnahmen nicht ausreichend herangezogen werden.

Eine Problematik des deutschen Gesundheitssystems liegt schließlich in der viel beklagten „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ (SVR-Gesundheit), d.h. der mangelnden Effizienz und Effektivität hoch spezialisierter, differenzierter Systeme und Institutionen, die oft neben- und gegeneinander, wenig koordiniert und nicht ausreichend präventiv arbeiten. Diese Struktur- und Steuerungsprobleme sind u.a. auch eine Folge der korporatistischen Steuerung mit sehr starken Interessengruppen von Anbietern (u.a. der Ärzteschaft) in einem stark rechtlich differenzierten Sozialversicherungssystem. Denn daraus resultiert eine größere institutionelle Eigendynamik und pfadabhängige Entwicklung als etwa in einem stärker staatlich, zentral gesteuerten und aus Steuern finanzierten System. Dazu kommt das deutsche Problem der ‚Politikverflechtung‘ mit vielen ‚Vetospielern‘ im Föderalismus, woraus ein großer Einigungsdruck zwischen den beiden großen Parteien von CDU/CSU und SPD resultiert und was ebenso grundlegende Pfadwechsel, etwa in eine solidarische, einheitliche Bürgerversicherung unter Einbeziehen aller Bürger und Einkommensarten (auch Kapitalgewinne), aber auch eine radikal neo-liberale weitgehende Reprivatisierung der Gesundheitssicherung (Stichwort: Kopfpauschale oder Gesundheitsprämie) bisher verhinderte.


Präsentation

Roth, Günter (2015): Gesundheitspolitik (Präsentation), Hochschule München, download (oa)


Literatur

Überblicke (Lehrbuch)

Lampert, H./Althammer, J. (2014): Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin u.a.: Springer.

Bäcker, G. (2010): Sozialpolitik und soziale Lage, Bd. II, Kap. Gesundheit und Gesundheitssystem, Wiesbaden, VS-Verlag, S. 92-245.

Daten, aktuelle Informationen, Berichte: www.sozialpolitik-aktuell.de 

Beiträge mit einem diskursiven Akzent der Gesundheitspolitik:

Altenstetter, Christa/Busse, Reinhard (2005): Health Care Reform in Germany: Patchwork Change within Established Governance Structures, in: Journal of Health Politics and Law, Vol. 30, Nos. 1-2, 121-142 download (cc).

Deppe, Hans-Ulrich (2007): Krankheit und Kommerz, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 1, S. 93-100 (bisher nur via Bib.).

Gerlinger, Th. (2014): Gesundheitsreform in Deutschland, in: Manzel, A./Schmiede, R. (Ed.): 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen, Wiesbaden: Springer-Verlag, S. 35-69.

Hartmann, A. (2006): Gesundheitspolitik: Mehr Probleme als Lösungen, in: Hartwich, H.H./Pehle, H. (Hg.), Wege aus der Krise? Die Agenda der zweiten Großen Koalition, Opladen: Barbara Budrich, S.59-75. (cc).

Schmid, Josef (2010): Gesundheitspolitik: Strukturen und Perspektiven, in: ders., Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich, Wiesbaden, VS-Verlag, S. 285-298.

Kevenhörster, P. (2014): Bilanz der Gesundheitspolitik, in: ders. Politikwissenschaft, Wiesbaden: Springer-Verlag, S. 311-358.

Zu Verbänden in der deutschen Gesundheitspolitik:

Gerlinger, Th. (2009): Der Wandel der Interessenvermittlung in der Gesundheitspolitik, in: Rehder, Britta/von Winter, Thomas/Willems, Ulrich (Ed.) (2009), Interessenvermittlung in Politikfeldern, Wiesbaden: Springer/VS, 33-51.

Darstellung der Gesetze:

Bundesminister für Arbeit und Soziales (2015): Übersicht über das Sozialrecht, Bonn/Nürnberg.