Wohlfahrtsstaaten und ‚Reformpolitik‘

Welcher Logik folgen die in vielen Wohlfahrtsstaaten zu beobachtenden ‚Reformen‘, Abbau- und Umbaumaßnahmen? Zunächst ist umstritten, inwiefern tatsächlich ein Abbau oder gar das oft beschworene ‚race to the bottom‘ (Castles) stattfand und ob nicht vielmehr ein enormes Beharrungsvermögen wohlfahrtsstaatlicher Strukturen und Institutionen vorherrschte. Dazu führt Korpi jedoch erhellend an, dass die grassierende Massenarbeitslosigkeit und die wachsende soziale Ungleichheit als Indikatoren eines massiven Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Rechte der Teilhabe im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zu werten seien und dass die klassische Orientierung an Sozialausgaben zu Fehlschlüssen über das Ausmaß und die Qualität wohlfahrtsstaatlicher Leistungen führe. So wurden die Leistungen des Wohlfahrtsstaats, gemessen an den Lohnersatzraten bei Arbeitslosigkeit, Rente oder Krankheit, zwischen 1975 und 1995 im Mittel um ca. 10% gekürzt, teilweise, wie im neoliberal-konservativen Vorreiter Großbritannien, sogar auf ein Niveau, das am 1995 unter dem von 1930 lag.

Neben der Frage der ‚abhängigen Variablen‘ (also des zu erklärenden Phänomens) gilt es zu klären, welche erklärenden Variablen die wohlfahrtsstaatlichen Reformen erklären können. Dabei behauptet die These von ‚New Politics‘ (Pierson), dass beim Wachstum des Wohlfahrtsstaates andere Erklärungsfaktoren gelten als bei den Reformen und beim Abbau, weil sich grundlegende Strukturveränderungen ergeben hätten. Veränderte soziale und ökonomische Rahmenbedingungen und ökonomische Krisen ergäben zum einen neue Probleme und Kräfte wie die De-Industrialisierung, mit sinkenden Wachstumsraten bei Dienstleistungen, neuen sozialen Spaltungen und Konflikten abseits der tradierten ‚Klassenfragen‘; dazu kommen die sich wandelnden Familienstrukturen und die gesellschaftliche Alterung sowie nicht zuletzt der zunehmende internationale Standortwettbewerb. All dieses erzwinge ‚neue‘ politische Lösungen und neue wohlfahrtsstaatliche Strukturen abseits klassischer parteipolitischer Konflikte von ‚Rechts‘ und ‚Links‘ – mit einem neuen Typus eines ‚schlanken‘ oder ‚gewährleistenden‘ Wohlfahrtsstaats. So argumentierte der sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler Schröder, als er den Abbau wohlfahrtsstaatlicher Rechte und Leistungen im Rahmen der ‚Agenda 2010‘ aufgrund veränderter Rahmenbedingungen als ‚alternativlos‘ bezeichnete, was dem berühmten Diktum ‚there is no alternative‘ von Margret Thatcher gut zwanzig Jahre bevor ähnelt. Ebenso wandte sich Schröders ‚Reformagenda‘ und ‚Neue Mitte‘ wie auch Blairs Projekt ‚New Labour‘ dezidiert gegen die ‚Altlinken‘ oder ‚Ewiggestrigen‘ in seiner Partei, die auch als ‚Strukturkonservative‘ gelten, welche schlicht die ‚Realitäten‘ oder Zeichen der Zeit‘ nicht erkennen würden.

Dagegen zeigen aber Walter Korpi u.a., dass ‚klassische‘ politische Variablen und Gegensätze von ‚Rechts‘ und ‚Links‘ einen erheblichen Einfluss auch auf die Art und Weise der wohlfahrtsstaatlichen Reformen und den Abbau sozialer Teilhaberechte hatten, weil Mitte-Rechts-Regierungen eine um das Vierfache höhere Wahrscheinlichkeit für den wohlfahrtsstaatlichen Abbau auswiesen gegenüber eher linken Regierungen. Im übrigen bestätigen empirische Analysen den positiven Zusammenhang zwischen dem Grad der Internationalisierung der Wirtschaft und der Höhe der Sozialausgaben, was gegen einen alternativlosen ‚Zwang zur Anpassung‘ und zum ‚Race to the bottom‘ spricht und für sozialpolitische Gestaltungsspielräume und Notwendigkeiten nationaler Sozialpolitik, gerade um die  Internationalisierung der Ökonomien zu ermöglichen (wie es bereits ähnlich Polanyi aufzeigte).


Basisliteratur

Korpi, Walter (2006): Welfare-State Regress in Western Europe: Politics, Institutions, Globalization, and Europeanization, in: Pierson, Christopher/Castles, Francis G. (Eds.), The Welfare State Reader (2. Ed.), Cambridge UK: Polity Press, 200-225, download (oa) (Fassung eines ähnlichen älteren Arbeitspapiers).

Castles, Francis G. (2006): A Race to the Bottom? In: Pierson, Christopher/Castles, Francis G. (Eds.), The Welfare State Reader (2. Ed.), Cambridge UK: Polity Press, 226-244, download (cc).

Weiterführend

Castles, F.G. (2006): The growth of the post-war public expenditure state: long-term trajectories and recent trends, Sfb 597, Staatlichkeit im Wandel, Arbeitspapier, Universität Bremen, download (oa).

Obinger, H./Starke, P. (2007): Sozialpolitische Entwicklungstrends in OECD-Ländern 1980 - 2001: Konvergenz, Divergenz oder Persistenz, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft Nr. 38, 470-495, download (cc).

Allan, J.P./Scruggs, L. (2004): Political Partisanship and Welfare State Reform in Advanced Industrial Societies, American Journal of Political Science, Vol. 48, No. 3, 496-512, download (cc).

Zohlnhöfer, Reimut (2003): Der Einfluss von Parteien und Institutionen auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik, in: Herbert Obinger/Uwe Wagschal/Bernhard Kittel (Hrsg.): Politische Ökonomie. Demokratie und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Opladen: Leske+Budrich, 47-80, download (oa).


Anmerkung:

oa = open access

cc = creative commons (Zugang für private Studienzwecke mit Kennwort nach Anmeldung)


Abbildungen und Tabellen


Quelle: OECD Revenue Statistics 1965-2006


Nettolohnersatzraten in OECD-Staaten (1980-2001)


Quelle: Scruggs 2004, n. Obinger/Starke PVS Sonderheft 2007: 485


Nettolohnersatzraten in OECD-Staaten (2001-2005)


Der Einfluss politischer Parteien in der Sozialpolitik


Quelle: Obinger/Starke PVS Sonderheft 2007: 478.