Der Wohlfahrtsstaat als ‚Wohltäter‘: Funktionales Modell

Wenn es um den Staat geht, kann man gar nicht genug zweifeln“ (Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft, 1998: 97)


Dien Entwicklung der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaates wird nach dem rational-funktionalen Modell primär durch  gesellschaftliche, v.a. ökonomische Anforderungen, Funktionen und Möglichkeiten bestimmt. Um die soziale Integration und Ordnung zu gewährleisten, um Anomie (Rebellionen, Apathie, Eskapismus etc.) zu vermeiden, entstehen in einer langen Entwicklung in Europa immer mehr staatliche Institutionen, die für Sicherheit, Recht und Ordnung, funktionierende Märkte, Infrastruktur, Bildung sowie nicht zuletzt für die soziale Sicherung bedürftiger Bürger (Arme, Arbeitslose, Behinderte, Alte oder Kranke) sorgen, sofern dieses nicht durch privates Handeln, informelle Selbstorganisation, Märkte oder Familien gewährleistet ist (Polanyi 1978; Esping-Andersen 1990). 

Rational-Funktionales Modell

Quelle: Eigene Erstellung
 

Ein wesentlicher Hintergrund der Entstehung und Entwicklung der rationalen, legalen bürokratischen staatlichen Herrschaft (Max Weber) ist die wachsende Zahl und Dichte der Bevölkerung, die zunehmende Arbeitsteilung, Industrialisierung und Dynamik kapitalistischer Märkte. Die tradierte personengebundene, informelle, patrimoniale Ordnung und‚mechanische Solidarität’ (Èmile Durkheim) in Familien oder Sippen war im Zuge solcher Entwicklungen weniger leistungsfähig, so dass sich ein neuer Typus rational und formal ‚organisierter Solidarität‘, eine durch Wettbewerb, ‚rationalem Eigeninteresse‘ und Vertrag gekennzeichnete Marktwirtschaft, bürokratische Herrschaft usw. durchsetzten (Durkheim 1992, Weber 1980).

 

In tradierten ‚Gemeinschaften’ von Familien, Sippen oder Dörfern herrscht dagegen zunächst eine scheinbar selbstverständliche Logik ‚mechanischer Solidarität‘ (Durkheim), der Gabe und des Opfers (Mauss 1968; Durkheim 1992) in einer sublimen ‚Ökonomie des symbolischen Tauschs‘ oder der Ehre (Bourdieu 1993). Dieses beruht auf verwandtschaftlichen oder engen persönlichen Beziehungen und Abhängigkeiten in meist einfachen Formen kommunistischer Subsistenzwirtschaft und einer patriarchalischen Herrschaft des ganzen Hauses, ohne funktionale Trennungen, von Haus und Betrieb, persönlichen und öffentlichen Finanzen usw. (Weber 1980). Die Anforderungen an die Konformität sind in einfachen und traditionalen Gesellschaften groß, das Kollektiv dominiert das Individuum und es herrscht ein strenges, religiös begründetes Strafrecht, eine rigide Normativität, so Durkheim (1992). Dieses bedeutet im Idealfall eine scheinbar selbstverständliche Nähe, Hilfe und Versorgung für hilfsbedürftige Kinder oder ältere Angehörige, jedoch auch eine hohe Abhängigkeit und Verletzbarkeit beim Fehlen oder der Überlastung ‚informeller sozialer Netze’.

Letzteres tritt mit der wachsenden Arbeitsteilung, Mobilität, Verstädterung, Industrialisierung, Bildung usw. aber immer häufiger auf, so dass ein anonymes, nüchtern und kühl berechnendes Vertrags- und Restitutionsrecht und eine leistungsfähigere ‚organisierte Solidarität’ geschaffen und durchgesetzt wurde. Im ‚modernen’, d.h. sich ständig dynamisch verändernden, Gesellschaftstypus ersetzt zunehmend die Individualisierung die strenge Kollektivorientierung – eine Moral, die v.a. in korporativen Normen zum Ausdruck kommt und zwar weniger repressiv, aber mindestens so zwingend ist (Durkheim 1992). Die Möglichkeiten und Pflichten zur Unähnlichkeit, Freiheit und ‚Selbstverwirklichung’ wachsen für das Individuum, aber auch die Pflichten in der Umstellung von Fremd- auf Selbstzwang (Elias 1997) moderner kapitalistisch-staatlich regulierter ‚Kontrollgesellschaften’ (Foucault 1978; Deleuze 1993). Die zentrale Voraussetzung für diese hier nur skizzierten Entwicklungen bildet die Herrschaftsinstanz des modernen rationalen ‚Anstaltstaats’ (Weber) mit seinem Arsenal von Soldaten, Polizisten, Richtern, Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen usw., „von dem wir immer stärker abhängen“ und dem „die Aufgabe zuwächst, uns an das Gefühl gemeinsamer Solidarität zu erinnern“ (Durkheim 1992: 285). Private Assoziationen stehen irgendwo zwischen Familie, Markt und Staat: Sofern sie unentgeltlich und gemeinnützig, wenig formalisiert sind, ähneln sie großen Familien mit der Logik von Gabe, Opfer und Ehre und diese springen bei sozialen Problemen oft als erste in die Bresche. Handeln diese Vereinigungen jedoch formal organisiert und gegen Entgelt, sind sie an sich dem auf Exklusion und privater Nutzenaneignung sowie Tausch per Vertrag im Wettbewerb beruhenden Markt zuzuordnen, sind sie formal organisiert und korporatistisch involviert (wie die deutschen Wohlfahrtsverbände), sind sie als staatsnah oder quasi-staatlich zu betrachten, sofern sie monopolartig hoheitliche Funktionen wahrnehmen bzw. ‘öffentliche Güter‘ ‚herstellen‘.

Der Staat, so das Modell liberal-demokratischer Herrschaft, soll nur insofern tätig werden als vorrangige freiwillige private Lösungen, Märkte, Familien oder Vereinigungen, versagen und kollektive Maßnahmen im Interesse des Gemeinwohls (oder zur Sicherung bzw. Herstellung ‚öffentlicher Güter‘ nötig scheinen. Grundsätzlich sollten die als frei und gleich reklamierten Bürger ihr Wohl selbst bestimmen, sofern andere nicht in ihrer Freiheit verletzt werden oder das Allgemeinwohl leidet. Das staatliche Handeln muss auf einer legalen und legitimen demokratischen Ordnung beruhen, was durch öffentliche Verwaltungen ggf. gegen Zwang durchgesetzt werden soll. Dazu sollen die Präferenzen der Bürger in freien, gleichen und geheimen Wahlen oder Abstimmungen über konkurrierende politische Programme und Repräsentanten zum Ausdruck kommen, so dass demokratisch legitimierte Regierungen allgemein verbindliche Entscheidungen im Rahmen rechtsstaatlicher und öffentlicher Verfahren mittels Verwaltung und Rechtsprechung herstellen (Abbildung oben). Durch das ‚politisch-administrative System’ werden konkurrierende gesellschaftliche und politische Interessen, Bedarfe und Probleme zu politischen Programmen (policy) verarbeitet, als politische Prozesse (‚politics’) und in politischen Institutionen (polity) (Parlament, Regierung & Verwaltung sowie Justiz). In diesem System funktional differenzierter Machtausübung oder Gewaltenteilung führt ein legaler Personal- und Mitteleinsatz (‚input’) zu funktionalen, effektiven wie effizienten Regelungen, Transfers und Diensten (‚output’), woraus die größtmögliche Wohlfahrt, Legitimität und Vertrauen für und bei den Bürgern als ‚outcome’ resultieren.

In einem ähnlichen Verständnis bestimmt die UN Good Governance (UNDP 1997):

„Governance can be seen as the exercise of economic, political and administrative authority to manage a country's affairs at all levels. It comprises the mechanisms, processes and institutions through which citizens and groups articulate their interests, exercise their legal rights, meet their obligations and mediate their differences. Good governance is, among other things, participatory, transparent and accountable. It is also effective and equitable. And it promotes the rule of law. Good governance ensures that political, social and economic priorities are based on broad consensus in society and that the voices of the poorest and the most vulnerable are heard in decision-making over the allocation of development resources.“ 

Allerdings droht der im Rahmen der ‚Governance-Diskussion‘ übliche Einbezug privater Organisationen die Grenzen von öffentlichem Sektor und Privatem, Politik, Verwaltung und Wirtschaft, aber auch der Legislative, Judikative und Exekutive harmonisierend zu verwischen, ohne die Ideen von Gewaltenteilung und der modernen politischen Philosophie seit Locke oder Rousseau zu berücksichtigten (Khandakar, 2009).

Der Webersche Idealtypus rationaler legaler Herrschaft

Nach dem Idealtypus moderner rationaler, legaler bürokratischer Herrschaft (Weber 1980) richten sich die Mittel der Verwaltung streng nach gesetzlichen Zielen und Aufgaben, die sachlich zuständigen Behörden und ihre Leiter verteilen effektiv und effizient Zuständigkeiten und Arbeiten, weisen Ressourcen (Finanz, Sach- u. Personalmittel) zu und führen im Rahmen der Amtsdisziplin. Die Kraft dieser Herrschaft besteht in der Leistungsfähigkeit und Rationalität einer sachlichen Über- und Unpersönlichkeit (‚sine ira et studio’), allein nach legal gesetzten Zwecken und Verfahren; die Auswahl und Beförderung von Personal und der Einsatz an Sachmitteln folgt sachlich-fachlichen Gesichtspunkten, es gibt kein persönliches Eigentum am Amt und keine unzulässige Einflüsse persönlicher Interessen oder klientelistischer Netzwerke; Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen sind formal festgelegt und eindeutig monokratisch, Abläufe formalisiert und standardisiert, Vorgänge werden aktenmäßig festgehalten, so dass jederzeit öffentlich Rechenschaft über die Zielerreichung und den Mitteleinsatz abgelegt wird. Entscheidend ist auch, dass die Verwaltung durch hauptberufliche Beamte ausgeübt wird, deren Auswahl und Beförderung nach Leistung und Qualifikation erfolgt, im Rahmen geregelter Laufbahnen und Karrieren, die dem politischen Zugriff oder dem Einfluss mächtiger Interessen oder Klienten entzogen sind (außer ‚politischen Wahlbeamten’ an der Spitze). Dabei sichert die Anstellung von Beamten und Richtern auf Lebenszeit und ihre ‚standesgemäße‘ Versorgung ihre Unabhängigkeit gegen mächtige Klientele und auch gegenüber dem ‚Dienstherrn‘, der selbst dem Recht verpflichtet und kontrollierbar ist.  

Formen und Folgen abweichenden Verhaltens und Dysfunktionen

Dem rational-funktionalen Modell folgt die Politik- und Verwaltungswissenschaft im Grunde bis heute, ungeachtet bekannter Abweichungen in der Praxis und Diskussionen über die Dysfunktionalität von Bürokratie, die schon Weber und viele andere vor und nach ihm thematisierten. Natürlich sieht die Realität auch in demokratischen Rechtsstaaten oft anders aus: Das ‚abweichende Verhalten’ der politischen Akteure und Bürger und soziale Probleme, so Merton im Anschluss an Durkheim, resultierten grundsätzlich aus einer Dissonanz gesellschaftlicher Ziele und Mittel. Sie treten als Konformismus, Ritualismus, Apathie, Eskapismus (Desinteresse, Enthaltung, Auswanderung, Selbstmord usw.), bis hin zum innovativen oder kriminellen Verhalten auf, also z.B. Diebstahl, Korruption, Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit usw., bis hin zur Gewalt und Rebellion. Politische Zielverfehlungen und mangelhafter Mitteleinsatz (Defizite der Effizienz), dauerhaft ungelöste soziale und politische Probleme, Intransparenz, Machtmissbrauch etc., sollten dem Modell zufolge aber kurz- oder mittelfristig zum Entzug der Unterstützung durch die Wähler und zum Wechsel der Repräsentanten führen, mit einer Korrektur von Input, Output und Outcome oder zur Etablierung einer neuen sozialen und politischen Ordnung.

Gemeinhin gelten deshalb eine hohe Legitimation in der Bevölkerung, Zufriedenheit, Wahlbeteiligung und stabile, aber wechselnde Regierungen als Zeichen der Funktionalität des politisch-administrativen Systems, dagegen sind Gewalt, Kriminalität, Korruption, Auswanderung, Unzufriedenheit, Protest, Enthaltung oder ein generelles Misstrauen als kritische Zeichen. Indes sind Bewertungen politischer Prozesse und Ergebnisse umstritten und nur schwer objektiv zu treffen: So kann Wahlenthaltung auch als Zufriedenheit gewertet werden oder die Teilnahme als purer Konformismus und Ritualismus, so dass die noch an anderer Stelle zu vertiefenden Mess- und Bewertungsprobleme von ‚Good Governance’ erheblich sind.

Literatur:

Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Deleuze, Gilles (1993): Postscriptum über die Kontrollgesellschaften, In: ders. (Hg.), Unterhandlungen 1972-2000, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 254-262.

Elias, Norbert (1997): Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (2 Bde.), Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Esping-Andersen, Gosta (1990): The three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton Univ. Press, Princeton.

Durkheim, Émile (1992): Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht: über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Merve Verl, Berlin.

Khandakar, Qudrat-I Elahi (2009): UNDP on good governance, Bradford : Emerald.

Mauss, Marcel (1968): Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Polanyi, Karl (1978): The great transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (Übers. von Heinrich Jelinek), Suhrkamp, Frankfurt/Main.

UNDP (Ed.) (1997): Governance for sustainable human development: Good governance - and sustainable human development (UNDP policy document), UN (United Nations Development Programme, UNDP), New York.

Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie (5. rev. Auflage, besorgt von Josef Winckelmann), Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.