„Der Staat hat mich, wie alle anderen auch, in sich hineingezwungen und mich für ihn, den Staat, gefügig gemacht und aus mir einen Staatsmenschen gemacht, einen reglementierten und registrierten und trainierten und absolvierten und pervertierten und deprimierten, wie alle anderen“ (Thomas Bernhard).

Weiterführende Literatur:

Arts, Wil/Gelissen, John (2002): Three Worlds of Welfare Capitalism or more? A state-of-the-art report, Journal of European Social Policy 12(2), 137-158.

Dean, Hartley (2006): Social Policy, Cambridge: Polity Press, p. 1-40.

Esping-Andersen, Gosta (1990): The three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton Univ. Press, Princeton, 9 – 54.

Schmid, Josef (2002): Wohlfahrtsstaaten im Vergleich: Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, Leske+ Budrich, Opladen, S. 27-101.

Schmidt, Manfred G et al. (Hg.) (2007): Der Wohlfahrtsstaat: Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich VS, Verl. für Sozialwiss, Wiesbaden.

Dagegen verstehen konflikttheoretische Ansätze den Wohlfahrtsstaat als Feld sozialer und politischer Konflikte, auf dem konkurrierende Akteure oder Interessengruppen mit ihren jeweiligen Machtressourcen um die Macht im Staat kämpfen. Der moderne Staat wird im Anschluss an Max Weber nicht über seine mannigfaltigen Zwecke, vielmehr durch dessen Mittel bestimmt, dass er „mit Erfolg das Monopol des legitimen Gebrauch physischer und symbolischer Gewalt über ein bestimmtes Territorium und über die Gesamtheit der auf diesem Territorium lebenden Bevölkerung für sich beansprucht“ (Bourdieu 1998: 99 (Hervorh. i. Orig.). Die verschiedenen Akteure und Interessen kämpfen um diese Macht im Staat, um ihre jeweiligen Sichtweisen und Regeln der sozialen Ordnung als allgemein verbindliche durchzusetzen. In kapitalistischen Marktgesellschaften besteht primär ein Konflikt zwischen den Interessen mächtiger Kapitalbesitzer oder Unternehmer und lohnabhängiger Arbeiter ohne Produktivkapital oder Habenichtse. Dieser Konflikt wird durch den Wohlfahrtsstaat organisiert und reguliert, indem dieser eine Ordnung mit Eigentumsrechten, Vertragsrecht usw. herstellt und soziale und politische Rechte zur Teilhabe, auch unabhängig von Markt und Familien garantiert; entsprechend bestimmt Esping-Andersen (1990) als wesentliche Dimensionen des Wohlfahrtsstaats die ‚De-Commodification‘, ‚De-Familialisation‘ und Stratifizierung (als Minderung oder Herstellung sozialer Ungleichheit). Je nach politischen Ideologien und Kräfteverhältnissen entstehen unterschiedliche ‚Regime’ des Wohlfahrtskapitalismus, mit den großen politischen Lagern von Liberalen, Sozialisten und Konservativen, mit jeweils unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Konzepten und Ausmaßen der Dekommodifizierung, Defamilialisierung und Gleichheit/Ungleichheit die auffällig mit der Trias von Liberté, Ègalité et Fraternité korrespondieren. Weiter lesen ...

 

Einführende Literatur:

Kaufmann, F.X (2003): Theoretische Grundlagen, in: Varianten des Wohlfahrtsstaats: Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 25-53.

Lessenich, S. (2000): Soziologische Erklärungsansätze zu Entstehung und Funktion des Sozialstaats, in: Allmendinger, J./Ludwig-Mayerhofer, W. (Hg.), Soziologie des Sozialstaats: Gesellschaftliche Grundlagen, historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungstendenzen, Weinheim/München: Juventa, S. 39-78.


Leitfragen

Was bedeutet „Sozial- oder Wohlfahrtsstaat“ und wie kann dieser empirisch bestimmt werden?

Welche Determinanten können die unterschiedliche Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten erklären?

Welche Typen von Wohlfahrtsstaaten lassen sich wie konstruieren?

Welche empirische Evidenz gibt es für die jeweiligen Theorien und Determinanten?

Wie sind die Verhältnisse von Staat, Familie und Markt?

Theoretische Grundlagen – Überblick

Der Wohlfahrtsstaat als ‚Wohltäter‘ - die funktionale Perspektive

Der Wohlfahrtsstaat gilt in Lehrbüchern und auch allgemein selbstverständlich als Mittel, um die größtmögliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder Wohlfahrt für alle zu verwirklichen, als Institution zur Lösung sozialer Probleme der Integration marktgesteuerter, arbeitsteiliger, industrieller Gesellschaften, um soziale Probleme, Desorganisation oder Anomie in den sich dynamisch wandelnden Gesellschaften zu vermeiden (Kaufmann 2003: 39 f.). Die exorbitante militärische, ökonomische sowie kulturelle Macht und Gewalt, die besonders in den ‚Wohlfahrtsstaaten‘ konzentriert ist, wird damit zum Mittel des guten Zwecks. Der Staat sorge infolge der wirtschaftlichen Entwicklung mit der wachsenden Arbeitsteilung (funktionale Differenzierung), Verstädterung, Industrialisierung usw. für Sicherheit und Ordnung, Infrastruktureinrichtungen, Bildung und soziale Sicherung armer, arbeitsloser, behinderter, alter oder kranker Bürger, sofern dieses nicht durch die vorrangige gesellschaftliche ‚Selbstorganisation’ auf Märkten, durch Familie, Vereine etc. gewährleistet werde (Polanyi, 1978; Esping-Andersen, 1990). Weiter lesen ...

Eigendynamik wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

Drittens ist ein Teil der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung auch der Eigendynamik staatlicher und politischer Institutionen und Strukturen (‚polity‘) mit den einmal gewählten Pfaden und institutionellen Lösungen, hier der ‚Regime‘ des Wohlfahrtsstaates (Esping-Andersen), geschuldet, die oft über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger erhalten bleiben, z.B. der deutsche konservative ‚Sozialversicherungsstaat‘. Dabei korreliert der politische Rechts-Links-Gegensatz, hier der Einfluss linker politischer Parteien über viele Jahre hinweg mit den unterschiedlichen Regimen in Wohlfahrtsstaaten (Abbildung). Einmal etablierte politische Institutionen und Ordnungen entfalten oft relativ unabhängig von ihrem sozialen, ökonomischen und politischen Umfeld mit Akteuren, Parteien, Prozessen und Ideologien, eine erstaunlich kontinuierliche, ‚pfadabhängige‘ und eigendynamische Entwicklung, wobei Institutionen und Kräfteverhältnisse auch wechselseitig wirken.

 

Zu institutionellen Faktoren zählt auch die Frage der eher dezentralen, föderalen oder stärker zentralen Entscheidungsstrukturen eines Regierungssystems, womit auch die Anzahl beteiligter ‚Veto-Spieler‘ bei politischen Entscheidungen verbunden ist und woraus jeweils bremsende oder fördernde Effekte für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats entstehen können. Weitere wichtige institutionelle Faktoren bilden das Wahlrecht (Mehrheitswahlrecht versus Verhältniswahlrecht) und die Strukturen der politischen Interessenvermittlung (Konkurrenz- vs. Konkordanzdemokratie, Korporatismus vs. Pluralismus) (Pierson, 2006; Pierson, 2002).

Diese institutionellen Variablen wirken oft wechselseitig (so dass aber auch eine Gefahr zirkulärer Erklärungen bei institutionentheoretischen Ansätzen droht): Dazu, dass sich politische Ordnungen und Institutionen selten radikal ändern und eher Schritt für Schritt oder evolutionär wachsen, tragen z.B. korporatistische Strukturen eher bei. Ähnliches gilt für das Verhältniswahlrecht und konkordanzdemokratische sowie dezentrale föderalistische Strukturen sowie die Stärke von ‚Veto-Spielern’. So ist im föderal organisierten Deutschland für die meisten sozialpolitischen Gesetze nicht nur eine Mehrheit im Bundesparlament (Bundestag), sondern auch in der Vertretung der Länder (Bundesrat) erforderlich. Da vom Volk meist in Bund und Ländern konträre Regierungsmehrheiten gewählt werden, die aufgrund des Verhältniswahlrechts zudem meist in Koalitionen gebunden sind, unterliegen sozialpolitische Entscheidungen einem starken Einigungszwang vieler Veto-Spieler oder gar einer ‚Politikverflechtungsfalle’ (Scharpf, 1999). Hinzu kommt die spezifisch korporatistische Organisation des deutschen ‚Sozialversicherungsstaats, wobei die Selbstverwaltung der ‚Sozialpartner’ einen gewissen Einigungszwang und Kontinuität mit sich bringt. Infolgedessen überwiegen in der deutschen Sozialpolitik moderate pfadabhängige Lösungen des ‚mittleren Wegs’, zumal hier die Ideologie des ‚weder Kommunismus noch Kapitalismus’ oder die ‚Soziale Marktwirtschaft’ eine in hohem Maße einigungsstiftende Formel bildet.

Grundsätzlich bilden politische Institutionen und das politische Feld relativ autonome Mikrokosmen der sozialen Welt, in denen besondere Ein- und Ausschlussprinzipien und Regeln sowie Strukturen gelten, mit ‚eingeweihten’ Berufspolitikern oder Regierungsvertretern, welche das Monopol legitimer politischer Handlungen haben, hier und dem Publikum und Laien dort; dabei werden letztere tendenziell politisch enteignet und entmündigt (Bourdieu 2001: 47). Denn ungeachtet aller Konflikte teilen die Angehörigen des politischen Feldes ein gemeinsames Anliegen mit dem Glauben an das politische Feld und den Staat in einer grundsätzlichen Verbundenheit untereinander in Abgrenzung zu den Außenstehenden. Infolgedessen drohen auch Politikern mit zu großer Volksnähe nur allzu leicht Vorwürfe der Inkompetenz, des Populismus, der Demagogie oder Scharlatanerie. Je zentraler die Position der Akteure ist, je stärker diese mit Institutionen verbunden sind und ihnen ihren Erfolg verdanken, desto eher vertreten und verteidigen sie als Elite in der Regel die herrschenden Regeln der Orthodoxie des Feldes. Ihnen stehen auf der anderen Seite die aufstrebenden Häretiker an den Rändern gegenüber, welche die politische Welt und Kräfteverhältnisse meist radikal verändern wollen (Bourdieu, 2001: 55). Die Verleihung des Rechts und der Kompetenz politischer Repräsentation gleicht einem magischen Akt der Weihe, der Inauguration und Investitur, weil sie einen quasi transzendenten Übergang der Macht einer sozialen Gruppe auf eine Person bedeutet – entsprechend groß ist der symbolische Aufwand und der Hang zur Inszenierung politischer Großauftritte.

Zwar ist die Autonomie und ‚Selbstreferenz’ des politischen Feldes begrenzt, das letzte Wort hat immer das Volk, d.h. es muss regelmäßig eine Rückkopplung zu jenen geben, in deren Namen politische Repräsentanten zu sprechen und herrschen befugt wurden, um nicht als geschlossene Veranstaltung ‚leer zulaufen’ (Bourdieu, 2001: 49). Die politische Macht ist jedoch im Volk ungleich verteilt: So verfügen vor allem die ökonomischen und kulturellen Eliten über vorzügliche Mittel und Wege, um ihre politischen Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Um auf dem politischen Feld Macht entwickeln zu können, braucht es Interesse, Zeit, Bildung, Wissen und das ‚gewisse Etwas’ oder ‚Charisma’ des Sozialprestiges, welches wiederum stark mit ökonomischen und kulturellen Kapital korreliert. So kommt in Demokratien ein „versteckter Zensusmechanismus“ (Bourdieu ebd. 43) zum Tragen, weil sich sozial Benachteiligte häufiger der politischen Stimme enthalten, desinteressiert oder verdrossen sind, ihnen erscheint Politik oft als Schmierentheater, ungerecht, abgehoben und nutzlos.

Literatur

Bourdieu, Pierre (2001): Das politische Feld: Zur Kritik der politischen Vernunft, UVK-Verl.-Ges, Konstanz.

Esping-Andersen, Gosta (1990): The three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton Univ. Press, Princeton.

Pierson, Paul (Hg.) (2002): The new politics of the welfare state Oxford Univ. Press, Oxford [u.a.].

Pierson, Christopher/Castles, Francis G. (Hg.) (2006): The welfare state reader Polity Press, Cambridge [u.a.].

Polanyi, Karl (1978): The great transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (Übers. von Heinrich Jelinek), Suhrkamp, Frankfurt/Main.

Scharpf, Fritz W, (Ed.) (1999): Föderale Politikverflechtung: Was muss man ertragen - was kann man ändern?, MPI Working Paper 99/3 (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln), Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de/pu/workpap/wp99-3/wp99-3.html.