Zu institutionellen Faktoren zählt auch die Frage der eher dezentralen, föderalen oder stärker zentralen Entscheidungsstrukturen eines Regierungssystems, womit auch die Anzahl beteiligter ‚Veto-Spieler‘ bei politischen Entscheidungen verbunden ist und woraus jeweils bremsende oder fördernde Effekte für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats entstehen können. Weitere wichtige institutionelle Faktoren bilden das Wahlrecht (Mehrheitswahlrecht versus Verhältniswahlrecht) und die Strukturen der politischen Interessenvermittlung (Konkurrenz- vs. Konkordanzdemokratie, Korporatismus vs. Pluralismus) (Pierson, 2006; Pierson, 2002).
Diese institutionellen Variablen wirken oft wechselseitig (so dass aber auch eine Gefahr zirkulärer Erklärungen bei institutionentheoretischen Ansätzen droht): Dazu, dass sich politische Ordnungen und Institutionen selten radikal ändern und eher Schritt für Schritt oder evolutionär wachsen, tragen z.B. korporatistische Strukturen eher bei. Ähnliches gilt für das Verhältniswahlrecht und konkordanzdemokratische sowie dezentrale föderalistische Strukturen sowie die Stärke von ‚Veto-Spielern’. So ist im föderal organisierten Deutschland für die meisten sozialpolitischen Gesetze nicht nur eine Mehrheit im Bundesparlament (Bundestag), sondern auch in der Vertretung der Länder (Bundesrat) erforderlich. Da vom Volk meist in Bund und Ländern konträre Regierungsmehrheiten gewählt werden, die aufgrund des Verhältniswahlrechts zudem meist in Koalitionen gebunden sind, unterliegen sozialpolitische Entscheidungen einem starken Einigungszwang vieler Veto-Spieler oder gar einer ‚Politikverflechtungsfalle’ (Scharpf, 1999). Hinzu kommt die spezifisch korporatistische Organisation des deutschen ‚Sozialversicherungsstaats, wobei die Selbstverwaltung der ‚Sozialpartner’ einen gewissen Einigungszwang und Kontinuität mit sich bringt. Infolgedessen überwiegen in der deutschen Sozialpolitik moderate pfadabhängige Lösungen des ‚mittleren Wegs’, zumal hier die Ideologie des ‚weder Kommunismus noch Kapitalismus’ oder die ‚Soziale Marktwirtschaft’ eine in hohem Maße einigungsstiftende Formel bildet.
Grundsätzlich bilden politische Institutionen und das politische Feld relativ autonome Mikrokosmen der sozialen Welt, in denen besondere Ein- und Ausschlussprinzipien und Regeln sowie Strukturen gelten, mit ‚eingeweihten’ Berufspolitikern oder Regierungsvertretern, welche das Monopol legitimer politischer Handlungen haben, hier und dem Publikum und Laien dort; dabei werden letztere tendenziell politisch enteignet und entmündigt (Bourdieu 2001: 47). Denn ungeachtet aller Konflikte teilen die Angehörigen des politischen Feldes ein gemeinsames Anliegen mit dem Glauben an das politische Feld und den Staat in einer grundsätzlichen Verbundenheit untereinander in Abgrenzung zu den Außenstehenden. Infolgedessen drohen auch Politikern mit zu großer Volksnähe nur allzu leicht Vorwürfe der Inkompetenz, des Populismus, der Demagogie oder Scharlatanerie. Je zentraler die Position der Akteure ist, je stärker diese mit Institutionen verbunden sind und ihnen ihren Erfolg verdanken, desto eher vertreten und verteidigen sie als Elite in der Regel die herrschenden Regeln der Orthodoxie des Feldes. Ihnen stehen auf der anderen Seite die aufstrebenden Häretiker an den Rändern gegenüber, welche die politische Welt und Kräfteverhältnisse meist radikal verändern wollen (Bourdieu, 2001: 55). Die Verleihung des Rechts und der Kompetenz politischer Repräsentation gleicht einem magischen Akt der Weihe, der Inauguration und Investitur, weil sie einen quasi transzendenten Übergang der Macht einer sozialen Gruppe auf eine Person bedeutet – entsprechend groß ist der symbolische Aufwand und der Hang zur Inszenierung politischer Großauftritte.
Zwar ist die Autonomie und ‚Selbstreferenz’ des politischen Feldes begrenzt, das letzte Wort hat immer das Volk, d.h. es muss regelmäßig eine Rückkopplung zu jenen geben, in deren Namen politische Repräsentanten zu sprechen und herrschen befugt wurden, um nicht als geschlossene Veranstaltung ‚leer zulaufen’ (Bourdieu, 2001: 49). Die politische Macht ist jedoch im Volk ungleich verteilt: So verfügen vor allem die ökonomischen und kulturellen Eliten über vorzügliche Mittel und Wege, um ihre politischen Interessen zu formulieren und durchzusetzen. Um auf dem politischen Feld Macht entwickeln zu können, braucht es Interesse, Zeit, Bildung, Wissen und das ‚gewisse Etwas’ oder ‚Charisma’ des Sozialprestiges, welches wiederum stark mit ökonomischen und kulturellen Kapital korreliert. So kommt in Demokratien ein „versteckter Zensusmechanismus“ (Bourdieu ebd. 43) zum Tragen, weil sich sozial Benachteiligte häufiger der politischen Stimme enthalten, desinteressiert oder verdrossen sind, ihnen erscheint Politik oft als Schmierentheater, ungerecht, abgehoben und nutzlos.
Literatur
Bourdieu, Pierre (2001): Das politische Feld: Zur Kritik der politischen Vernunft, UVK-Verl.-Ges, Konstanz.
Esping-Andersen, Gosta (1990): The three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton Univ. Press, Princeton.
Pierson, Paul (Hg.) (2002): The new politics of the welfare state Oxford Univ. Press, Oxford [u.a.].
Pierson, Christopher/Castles, Francis G. (Hg.) (2006): The welfare state reader Polity Press, Cambridge [u.a.].
Polanyi, Karl (1978): The great transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (Übers. von Heinrich Jelinek), Suhrkamp, Frankfurt/Main.
Scharpf, Fritz W, (Ed.) (1999): Föderale Politikverflechtung: Was muss man ertragen - was kann man ändern?, MPI Working Paper 99/3 (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln), Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, http://www.mpi-fg-koeln.mpg.de/pu/workpap/wp99-3/wp99-3.html.