Solidarität, Soziales Engagement, Soziale Bewegungen

Solidarität lässt sich als Verhalten positiv vor allem an der altruistischen Gabe oder dem Opfer (Mauss) ablesen. Damit es die Gabe gibt, muss eine dreifache Norm institutionalisiert sein, nämlich zu geben, anzunehmen und zu erwidern. Ähnlich betont Luhmann, dass Helfen zustande komme, soweit es gesellschaftlich erwartet werden kann. Solidarität wird primär und quasi ‚selbstverständlich‘ in persönlichen Beziehungen der ‚Gemeinschaft‘ vorausgesetzt, quasi ‚mechanisch‘, aufgrund von Gleichheit oder Ähnlichkeit, reziproker Beziehungen, Abhängigkeit und sozialer Kontrolle  – andernfalls drohten Anomie und Zerfall (Durkheim). Dabei herrscht beim Gabentausch zwar Unsicherheit und ein Tabu der Berechnung in einer ‚Ökonomie des sybmolischen Tauschs‘ (Bourdieu) (man entfernt Preise, verziert und erwidert ein Geschenk nicht identisch, zahlt in der Familie keinen Lohn usw.), wodurch gerade Anerkennung, Liebe, Vertrauen und Solidarität zum Ausdruck kommen sollen. Der Zwang zur Gabe und Solidarität ist in Familien und wohl konstituierten Feldern der Ehre in der Regel aber groß, weil enge funktionale und emotionale wechselseitige Abhängigkeiten, Beziehungen und soziale Kontrollen gegeben sind. Die Tausch- und Herrschaftsbeziehungen sowie Konflikte zwischen den Geschlechtern und Generationen bleiben zwar nicht verborgen, sie sind offene Geheimnisse und kommen etwa beim Erbe oder beim Heiraten zum Vorschein, mitunter im tödlichen Streit. Dennoch gelingt in der Regel die „[...] die Verwandlung von Macht in Charisma oder in den Charme, der eine affektive Verzauberung bewirken kann [...]. Das Schuldanerkenntnis wird zur Dankbarkeit, zum dauerhaften Empfinden für den Urheber des großmütigen Aktes, das bis zur Zuneigung gehen kann, zur Liebe wie man an den Beziehungen zwischen den Generationen besonders deutlich sehen kann.“ (Bourdieu 1998: 173)

In arbeitsteiligen Gesellschaften entwickelten sich notwendigerweise lockere, ‚kühlere‘ Formen ‚organischer Solidarität‘ (Durkheim). Neben zweckrationalen kapitalistischen Organisationen, privaten Interessenorganisationen und sozialen Bewegungen sorgen hierfür vor allem staatliche Institutionen. Die Bindungskraft der ‚generalisierten Solidarität‘ ist zwar nicht per se schwächer, dennoch wird diese Frage vielfach diskutiert und auch, ob zweckrationale Kalküle der Ökonomisierung und staatliche Zwänge nicht an sich das freiwillige Geben und das Opfer unterminierten (‚motivation crowding out‘), wie es z.B. Titmuss für das Blutspenden behauptete. Zur Solidarität und zum altruistischen Verhalten in anonymen Gruppen zeigen Experimente – auch interkulturell vergleichende –, dass sich Menschen zunächst meist solidarisch und kooperativ und weniger egoistisch defektierend verhalten, wobei sie sich an Reziprozität und Gerechtigkeitsnormen orientieren; für das Funktionieren von Solidarität braucht es positive gesellschaftliche, ökonomische und politische Rahmenbedingungen und Institutionen (vor allem des demokratischen Sozialstaates), die solidarisches Verhalten und Normen stützen, sonst erodiert die Solidarität. Dabei ist solidarisches Verhalten auf der individuellen Ebene v.a. mit Bildung, Alter und der Integration in soziale Netzwerke positiv korreliert.

Nachfolgend finden sich Überblicke mit jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln u. Akzentuierungen des großen Themas, mit theoretischen Überblicken (Friedrichs, s. auch: Adloff), stärker soziologisch u. mikroanalytisch (aber auch sozialpsychologisch) ansetzend (Bierhoff, Lück, Lamnek) oder eher makroanalytisch (Rucht, Luhmann). Daneben finden sich auch einige ökonomische Beiträge (Diekmann, Frey, Pommerehne, Titmuss).


Einführende Literatur:

Bierhoff, Hans-Werner/Küpper, Beate (1999): Das "Wie" und "Warum" von Solidarität: Bedingungen und Ursachen der Bereitschaft zum Engagement für andere, Ethik und Sozialwissenschaften, Vo. 10, 181-196, download (cc).

Friedrichs, Jürgen/Jagodzinski, Wolfgang (1999): Theorien Sozialer Integration, in: dies. (Hg.): Soziale Integration (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 39), Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 9-43, download (cc).

Lück, Helmut E. (1997): Hilfeverhalten, In: Frey, Dieter/Greif, Siegfried (Hg.), Sozialpsychologie: Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, Weinheim: Beltz, 187-191, download (cc).

Rucht, D./Neidhardt, F. (2001): Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, in: Joas, H. (Hg.), Lehrbuch der Soziologie, Campus: Frankfurt/M., S. 533-556.


Weiterführende Literatur

Adloff, Frank/Mau, Steffen (Hg.) (2005): Vom Geben und Nehmen: zur Soziologie der Reziprozität, Campus-Verl, Frankfurt/Main [u.a.].

Bourdieu, Pierre (1998): Die Ökonomie der symbilischen Güter, in: ders. Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 140-200, download (cc).

Frey, Bruno S/Jegen, Reto (2001): Motivation crowding theory, Journal of economic surveys, Vol. 15, No. 5, 589-611, download (cc).

Luhmann, Niklas (1973): Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, In: Otto, H.-U./Schneider, S. (Hg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Neuwied: Luchterhand, 21-43, download (cc).

Titmuss, Richard (1978): Die Blutspende oder die Ökonomie des Schenkens, Technologie und Politik, Vol. 12, 205-223, download (cc).


Experimente zum solidarischen Verhalten

Bierhoff, Hans-Werner (1997): Experimente zum Hilfeverhalten, In: Frey, Dieter/Greif, Siegfried (Hg.), Sozialpsychologie: Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, Weinheim: Beltz, 439-444, download (cc).

Diekmann, Andreas (2008): Soziologie und Ökonomie: Der Beitrag experimenteller Wirtschaftsforschung zur Sozialtheorie, in: KZFSS 60, 3, S. 528-550, (Springer-Link).

Lamnek, Siegfried/Kapitel, Patrick (2001): Normative Orientierungen in der Gegenwart - Ein Experiment zu solidarischem Verhalten, Soziale Welt, 52, 29-50, download (cc)

Pommerehne, Werner W/Feld, Lars P/Hart, Albert (1994): Voluntary provision of a public good: results from a real world experiment, Kyklos, Vol. 47, No. 4, 505-518, download (cc).


Präsentation (mit empirischen Befunden):

Roth, Günter (2007): Soziale Bewegungen, Solidarität, Soziales Kapital (Präsentation, Göttingen, Fachhochschule im Deutschen Roten Kreuz), download (oa).


siehe auch: Soziales Engagement