Armut, Reichtum und Soziale Grundsicherung / Sozialhilfe
Was ist Armut?
Quelle: Der Bürger im Staat 4/2003 (hrsg. v. Landeszentrale Politische Bildung Baden-Württemberg)
Im internationalen Konsens wird Armut deshalb auf die mittleren Einkommen in einem Land bezogen und dadurch bestimmt: Die Zone der Armut oder Armutsbedrohung beginnt demnach, je nach normativer Festlegung, bei ca. 60% oder 50% des mittleren Einkommens und der Grad des Risikos der Armut oder des sozialen Ausschlusses nimmt mit zunehmendem Abstand zu den mittleren Einkommen zu. Dabei wird auf real verfügbare Nettoeinkommen pro Haushalt abgehoben, wobei die Haushaltsmitglieder mit der zunehmenden Größe des Haushalts und nach dem Alter bewertet werden, weil durch die gemeinsame Nutzung von Ressourcen in großen Haushalten sparsamer gewirtschaftet wird und Kinder weniger Ressourcen brauchen als Erwachsene. Armut oder der Ausschluss von einer ‚normalen‘ oder mittleren sozialen Teilhabe in einer Gesellschaft sollte sich allerdings auf verschiedene Dimensionen der Lebensqualität beziehen, also Ernährung, Kleidung, Wohnen, Gesundheit, Kultur oder soziale Beziehungen einbeziehen. Es wird allerdings praktisch in der Regel nur auf Einkommen (Geld) rekurriert, weil davon ausgegangen wird, dass bei einem genügenden Einkommen an sich die Voraussetzung gegeben sind, um sich Güter wie Kultur, Bildung usw. auch beschaffen zu können, trotzdem somit immaterielle Aspekte von Armut oder Reichtum ausgeblendet bleiben. Aber auch bei der statistischen Bestimmung ‚mittlerer Einkommen‘ bleiben Dunkelfelder, weil nicht alle Einkommen einbezogen werden können, weil vor allem sehr hohe oder niedrige Einkommen meist außerhalb der statistischen Ermittlung, d.h. ‚im Dunkeln‘ bleiben.
Politik der Mindestteilhabe / Armutsvermeidung durch Grundsicherung
International haben die Vereinten Nationen soziale und politische Grundrechte festgelegt, die jedoch trotz der Unterzeichnung durch die meisten Staaten der Welt oft nicht individuell einzuklagen und somit rechtlich, moralisch und politisch nicht sehr bindend sind. Im deutschen Sozialstaat gilt seit 1954 ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben als „soziokulturelles Existenzminimum“, was durch das Bundesverwaltungsgericht in der Auslegung des Grundgesetzes und im Bezug auf Art. 1 (Menschenwürde) bestimmt wurde (BVerwGE 1, 159). Dieses fand dann auch 1961 in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG, SGB XII) Eingang. Diese grundlegende Weichenstellung ist wieder ein Beispiel für die typisch deutsche ‚Sozialpolitik von oben‘ und dass sozialpolitische Rechte durch ‚aufgeklärte‘ politische Eliten und Institutionen der Exekutive und Judikative weiterentwickelt werden – auch ohne direkten oder starken politischen Druck, z.B. durch politische Demonstrationen oder Wahlen via Parlamente. Neben dem Anspruch auf die Deckung ‚absoluter‘ oder existentieller Grundbedürfnisse wie Ernährung, Kleidung oder Wohnen gehört laut der deutschen Rechtsprechung also die Freiheit und Möglichkeit zur sozialen Teilhabe, sein Leben selbst gestalten und Ausgaben ohne existentielle Nöte vornehmen zu können, d.h. auch persönliche Aufwendungen für Bildung, Kultur, Feste usw.
Die Sicherung der sozialen Mindestteilhabe wird in Deutschland als Sozialhilfe oder neuerdings ‚Grundsicherung‘ an sich staatlich garantiert. Sozialhilfe ist nach dem individuellen Bedarf, als ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ und ‚nachrangig‘, d.h. nach dem Einsatz eigener Mittel aus Arbeit, Vermögen oder Unterhaltsansprüchen gegenüber Familienangehörigen zu gewähren. Zwar soll Sozialhilfe (zum Lebensunterhalt oder weitere Hilfen in besonderen Lebenslagen wie bei Pflege oder Behinderung) ohne Antrag, ggf. auch präventiv und ohne Blick auf Ursachen gewährt werden. Es besteht jedoch für die Hilfesuchenden eine Pflicht zur Mitwirkung und v.a. zur Annahme zumutbarer Arbeit (zumutbar ist jede nicht sittenwidrige Arbeit, also auch bei einer Entlohnung unterhalb von Tariflöhnen oder in gemeinnütziger Beschäftigung gegen ‚Mehraufwandsentschädigung‘, sog. ‚1-Euro-Jobs‘). Die Weigerung, eine zumutbare Arbeit auszuführen, kann zur Streichung von Zahlungen und Umstellung auf Sachleistungen führen. Ähnlich bekommen Gruppen wie Asylbewerber nur Sachleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Somit gibt es, auch durch eine mitunter repressive Praxis der meist zuständigen kommunalen Sozialverwaltungen, Menschen, die trotz Ansprüche auf eine menschenwürdige soziale Teilhabe unter einer krassen, mitunter lebensbedrohlichen Armut und Not wie Obdachlosigkeit leiden, insbesondere wenn Probleme kumulieren, gesundheitliche, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit oder psychische Probleme vorliegen.
Sozialhilfe / Grundsicherung und das Problem der ‚Arbeitsanreize‘ (der politische Kampf um ‚Dekommodifizierung‘)
Die staatlich garantierte soziale Mindestteilhabe lag in Deutschland im Jahr 2012 bei 374 € pro Monat für Alleinstehende (per Verordnung in sog. Regelsätzen festgelegt), plus ‚angemessenen‘ Zuschüssen für Ausgaben für Wohnen und Heizung. Ein allein lebender Erwachsener kommt im Mittel auf ca. 700 € Sozialhilfe oder Grundsicherung pro Monat (bei statistisch ermittelten 342 € an Warmmiete) (vgl. Bäcker et al. 2010; www.sozialpolitik-aktuell.de). Der Regelsatz wird statistisch anhand unterster Einkommensgruppen ermittelt, womit aber offen bleibt, ob damit tatsächlich eine Mindestteilhabe möglich ist, weil auch diese Einkommensgruppen arm sein können (‚working poor‘). Zudem soll in der Grundsicherung ein Abstand zu diesen unteren Einkommensgruppen gewahrt werden, um ‚Arbeitsanreize‘ aufrecht zu erhalten.
Die soziale Mindestteilhabe oder Grundsicherung, die durch den Staat gewährt wird, bildet somit eine fundamentale politische und soziale Konfliktlinie, weil Einkommen auch ohne Arbeit oder ‚mühelos‘ staatlich garantiert werden (‚Dekommodifizierung‘, da der Warencharakter der Arbeit gemindert wird). Die staatlich garantierte Grundsicherung entspricht umgerechnet einem fiktiven ‚Soziallohn‘ von ca. 5 € pro ‚Arbeitsstunde‘ (bei einer mittleren Jahresarbeitszeit von ca. 1600-1700 Std.). D.h. die ‚Arbeitsanreize‘ für Menschen mit sehr niedrigen ‚Hungerlöhnen‘ sind insofern tatsächlich problematisch, weil eben trotz aller Anstrengungen nicht sehr viel mehr Einkommen erzielt wird als die Mindestsicherung an der Armutsgrenze. Da in Deutschland aufgrund der schwindenden politischen Kraft und Organisationsfähigkeit der Arbeiterbewegung (Gewerkschaften und Linksparteien) seit längerem nur oft sehr niedrige Armutslöhne gezahlt werden, ist die Konfliktlage zwischen den Interessen von Kapitalbesitzern, Arbeitenden und Armutsbetroffenen also offenkundig und brisant.
Durch das sozioökonomische Panel (SOEP, DIW) wurde ermittelt, dass im Jahr 2007 ohne Sozialtransfers ca. 40% der Bevölkerung unter der Armutsrisikogrenze von 60% blieben, weil sie nur ca. 900 € / Monat an Einkommen aus Arbeit oder Vermögen zur Verfügung hatten; nach der Einbeziehung von Sozialtransfers waren immer noch ca. 15-17% der Menschen in Deutschland (2007) unter 60% des mittleren äquivalenten Nettoeinkommens von 891 € pro Monat (DIW, SOEP, Wochenbericht 38, 2008) (vgl. auch die folgende Abbildung, wobei jedoch anzumerken ist, dass hier große methodische Schwächen bestehen, vor allem bei der Erfassung sehr hoher und sehr niedriger Einkommen, die oft unberücksichtigt oder ausgeblendet bleiben).
Die Verteilung von Einkommen und Vermögen blieb über Jahrzehnte insgesamt relativ konstant, wobei die Ungleichheit aber in den letzten Jahren und nach den ‚goldenen Jahren‘ der 1960er/1970er wieder zunahm, v.a. in neuester Zeit (s. Abb.). Dabei ist neben den Sozialtransfers wie der Grundsicherung v.a. die Besteuerung von Einkommen und Vermögen sowie die Beitragsbemessung in der Sozialversicherung grundlegend.
Dabei verweisen vor allem liberale und konservative Ideologien darauf, dass ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit nicht nur unvermeidbar, sondern durchaus wünschenswert sei, um zur Arbeit und Leistung zu motivieren und Investitionen (durch Kapitalüberschüsse) zu ermöglichen. Demgegenüber betonen linke (sozialistische wie auch sozialdemokratische) politische Kräfte eher die negativen Wirkungen von Armut auf die Wirtschaft und Gesellschaft, weil der Konsum wie auch Bildung und Investitionen gebremst werden und Armut demotivierend, negativ auf die Gesundheit sowie sozial destabilisierend wirke. Als gemeinsamer politischer Hintergrund und zentrales Problem wirkt im übrigen mehr oder weniger in allen sog. ‚Wohlfahrtsstaaten‘, dass die Armutsbevölkerung politisch benachteiligt ist, oft resigniert, nicht an Wahlen teilnimmt und politisch schlecht organisiert (Vester 2006; Wilkinson 2006).
Präsentation
Roth, Günter (2015): Armut, Reichtum und Soziale Grundsicherung (Präsentation Hochschule München) download (oa)
Literatur:
Bäcker, G. et al. (2010): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Kap. Einkommen, v.a. Sozialhilfe ab Seite 313 ff. http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-531-92407-6/page/1). (Aktualisierung von Daten s. www.sozialpolitik-aktuell.de)
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland: Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin, download.
Vester, Michael (2006): Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 44-45/2006), http://www.bpb.de/publikationen/OK035C,0,Soziale_Milieus_und_Gesellschaftspolitik.html (oa).
Wilkinson, Richard G. 2006. The Impact of Inequality. Social Research Vol. 73 Issue 2, 711-732.
s. auch: Alterssoziologie: zum Thema Altersarmut u. Grafiken zur Einkommens-/Vermögensverteilung (auch allg.)
und Sozialpolitik in Europa: Armut international mit Grafiken zur globalen sozialen Ungleichheit